GBDuro – ein Gravel-Event von 2000 km längs durch England und Schottland und eines der härtesten Events, die ich jemals gefinisht habe. Die Gravel-Strecke ist sehr impegnativ, aber die vielen Hindernisse, die sich mir in den Weg stellten, sprich – Pannen, brachten mich mehrmals fast dazu aufgeben zu müssen.
Bevor ich beginne, einige Regeln, um das Erzählte richtig verstehen zu können …
- 2000 Kilometer von Land’s End im äußersten Südwesten Englands bis nach John O’Groats (=JOG), den nordöstlichsten Zipfel Schottlands (fast 30.000Hm)
- 4 Streckenabschnitte (=stages), an deren Ende gibt es eine Kontrollstelle, bei der sich alle Teilnehmer wieder treffen zum gemeinsamen Start am nächsten Morgen. Wer schnell radelt, kann lange ausruhen. Wer nicht pünktlich zum nächsten Start vor Ort ist, ist raus aus dem Rennen.
- Strenges Selfsupporting, das heißt keine Hilfe von außen darf angenommen werden
- Reines Outdoor-Event: immer im Freien schlafen, auch an den Kontrollstellen
- Nach 10 Tagen ist ein Zimmer in JOG reserviert, wer pünktlich zum Abendessen da ist, gilt als finisher, sonst „nur“ als angekommen, alle anderen sind DNF oder DSQ (did not finish oder disqualifiziert)
- Alle Fahrer müssen mit einem Tracker ausgerüstet sein
Stage 1: Land’s End to Ysbyty Cynfyn
Tag 1, 2 und 3 durch Cornwall und Wales
640 km/ 9700 Hm
Tag 1:
Start in Land’s End. 40 Starter setzen sich an diesem südwestlichsten Punkt Englands in Bewegung. Ich bin mir bewusst, dass es hart werden würde, aber was auf mich zukommen würde, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Die Straße steigt gleich steil an und ich den Start filmend halte mich möglichst weit rechts. Ist keine so gute Idee bei Linksverkehr …
Bald geht es schon ins Gelände. Die ersten kurbeln wie verrückt und das Feld lichtet sich so rasch. Es wird immer unwegsamer, der Weg schlängelt sich kilometerweit durch eine Art Heidelandschaft, geprägt durch große – bei uns würde man sagen – Erika-Büsche und einer anderen äußerst wadenfeindlichen stacheligen Staude. Im nu sind meine Beine bis zum Knie blutig zerkratzt. Fahren und Schieben wechseln sich ab. Irgendwann scheine ich ganz allein zu sein. Jetzt schon? Da kommt mir jemand zu Fuß entgegen, Jamie, wie ich später wissen werde. Ob ich seine Flasche gesehen habe. Nein, leider nicht. Für verlorene Gegenstände gibt es saftige Zeitstrafen. Ich hatte bisher schon eine Vorderlampe gefunden. Miles werde ich in 35 Km treffen, mit einem Müllsack schon angefüllt mit Gegenständen, die sich bei dieser Rüttelstrecke von diversen Rädern gelöst hatten. An meinem Rad ist zum Glück noch alles dran und Problem mit der Beleuchtung oder verlorenen Lampen hatte ich (zumindest jetzt noch) nicht. Mein Nabendynamo speist nachts die Beleuchtung und tagsüber über einen Pufferakku Smartphone und Navigationsgerät Garmin. Ich bin also unabhängig von Stromquellen. Feiner Gedanke.
Nun geht es sehr hügelig auf verkehrsarmen Sträßchen weiter. Diese haben aber fast alle eine unangenehme Eigenart: Kurze sehr steile knackige Anstiege, meist um die 20%, für mich und meinen 20 Kilo-schweren Gravel-„Traktor“ nahezu unmenschlich steil, insbesondere auch deshalb, weil meine Schaltung ein Gemisch aus Rennradschaltung und Gravelübersetzung ist, nicht so ideal.
Die angesagte Hitzewelle tut ihr übriges. Ich habe keinen Hunger nur ständig Durst, Durst, Durst. Beim ersten Supermarkt gibt es kein Wasser. Vor dem Geschäft aber steht einsam und verlassen eine fast volle Flasche „sparkling water“, Mineralwasser mit Kohlensäure. Die kralle ich mir sofort und befülle damit meine Trinkflaschen. Das hat beim Fahren über die holprigen Untergründe einen angenehmen Nebeneffekt für die Waden: In regelmäßigen Abständen entweicht duscheähnlich die Kohlensäure in einem Sprühregen.
Im nächsten Supermarkt gibt es gar kein Wasser mehr. Hamsterkäufe hatten dazu geführt, dass ich meine Flaschen nun mit Ananas-Saft füllen muss. An den nächsten beiden Tagen bekomme ich nirgendwo mehr Wasser. Ausnahme: An einer Kirche haben Senioren Flohmarktstände aufgebaut, hier frage ich, ob sie Wasser für mich hätten. Eine Dame verschwindet mit meinen Flaschen und bietet mir an, ich könne mich in der Kirche etwas hinsetzen und mich abkühlen – leider keine Zeit dafür.
Die Strecke führt nun wunderschön durch aufgelassenes Mienengelände und das auf leichtem Gravel-Radweg, dem Mines-Trail.
Hermanns „DOT“ ist schon etwa 20 km voraus. Mein ursprünglicher Zeitplan hat sich schon hier verabschiedet und ist weit überschritten. Bei einem Campingplatz-Pub-Stop bei Cola und Eis und Radflaschen-Auffüllen treffe ich Jamie wieder. Er hatte seine Flasche nach einigen Kilometern Fußmarsch wieder. Am Abend ein Supermarkt-Stop schon am späten Abend (die Supermärkte haben fast alle bis 23 Uhr auf) und dort lerne ich Simon kennen, der die GBDuro schon im Jahr zuvor gefinisht hat. Die Frage, wie ein vernünftig denkender Mensch diese Strapazen wissentlich noch mal auf sich nehmen kann, stelle ich mir zum Glück erst später im weiteren Verlauf des Rennens. Im Dunkeln fädele ich nun in ein einsames Flusstälchen im Exmoor Nationalpark ein. Schieben, fahren, schieben und so weiter. Am Wegesrand sehe ich mehrmals dunkle Hügel, die sich beim Näherkommen als bemannte Schlafsäcke entpuppen.
Leise vorbeischleichen, man will ja niemanden wecken. Mich holt trotz Ananas-Red Bull- Mischung nun auch die Müdigkeit ein, Mitternacht ist auch schon lang vorbei. Ich beschließe mir ein Schlafplätzchen zu suchen. Eine kleine Lichtung scheint ideal. An einen dicken Ast lehne ich mein Rad und beginne mein Nachtlager zu richten. Sobald ich meine Helmlampe anmache, stürzen sich eine paar riesige rotorange Fliegen auf mich, Mücken scheinen keine da zu sein. Zeltaufbau? Das ist mir jetzt zu langwierig, so muss Matte und Schlafsack reichen. Zähneputzen? Hat das mit Ananas-Saft einen Sinn? Ich lasse es sein. Zudem fühle ich mich sehr verschwitzt und klebrig. Nächtliche Geräusche. Was könnte das sein? Wölfe und Bären gibt es in England wohl nicht, oder? Ich döse ein. Nicht lange später weckt mich das Geräusch meines eigenen Zähneklapperns, auch die Knie zittern wie verrückt. Es ist neben dem Fluss kalt und feucht. Ich beschließe so nach etwa 1,5h Ausruhen zusammenzupacken und weiter zu … fahren, gehen.
Tag 2:
Nachdem ich minutenlang vor einem Gatter überlegt habe, wie das aufgehen könnte, geht es aufwärts. Die Quantock Hills sind nicht mehr weit. Ich höre was. Grüßt mich da jemand? Ja doch, da vorne ist ein Licht. Da ist wohl bei jemandem auch Aufbruchstimmung. Ich grüße laut zurück „morning! How are you?“ – keine Antwort. Das Licht entpuppt sich als Spiegelung des Mondes im darunter liegenden Teich gepaart mit Fantasiegespinsten, die der Müdigkeit geschuldet sind? Nicht lange nachher, am Horizont kündigt sich der nahe Morgen an, möchte ich eine Gegenlichtaufnahme machen. Es fehlt nun nur die Silhouette eines Radfahrers. Siehe da! Da vor mir ist ja einer. Breite Schultern und schmale Hüften. Super! Beim Näherkommen, es ist ein Vorfahrts-Schild. Hahhaaaa!
Der Tag zwei fängt auch an mit einer bunten Mischung aus Asphalt und Gravel und bald wird es ernst: Es geht hoch auf den Dunkery Beacon, den höchsten Gipfels Südenglands. Auf dessen Gipfel erhebt sich ein weit sichtbarer Steinhügel. Und welch Überraschung, Miles ist mit seiner Kamera vor Ort. In der Ferne geht die Sonne über dem Meer auf. Wunderbar. Die Abfahrt von diesem Hill ist schwerer als erwartet. Ich schiebe einige Kilometer über große Steinbrocken, durch dichtes Gebüsch. Oje, wenn das so weiter geht, bin ich wohl bald raus.
Aber es kann nur noch besser werden und irgendwann bin ich wieder auf fahrbarem Terrain. Und finde einen offenen Pub. Ich gönne mir Frühstück und eine ausgiebige Körperhygiene im Bad.
Heute scheint es wieder heiß zu werden. Unterwegs locken die kleinen Äpfelchen an einem Baum. Leckere saftige Früchte. Ich merke, dass ich einen Wurmkanal, wahrscheinlich mit Bewohner, mitgegessen habe. Egal, bekanntlich sind Proteine beim Sport ja gut. Eine lange ebene Asphalt-Strecke in der Gluthitze und Stopp in Bridgewater. Die Gegend scheint mir etwas heruntergekommen. Wie immer kein Wasser erhältlich. Alish treffe ich, die tiefgefrorene Erbsen ersteht und sich zwischen Rucksack und Körper klemmt. Ich rüste mich mit Sandwich, Kefir und Keksen. Als ich den Supermarkt verlasse, steht mein Oberrohrtäschchen weit offen, der gesamte Müll liegt auf dem Boden. Da hat wohl jemand was gesucht. Zum Glück sind Garmin und mein Tracker noch am Rad.
Weiter durch die Gluthitze. Ich finde eine Bäckerei, die mir die Wasserflaschen auffüllt. Und der Hit – meine Idee wird gleich lachend umgesetzt: Ich frage, ob es einen Eimer gibt, den man mit Wasser füllen könnte … Mein Wunsch ist Befehl, der Chef des Hauses steigt mit befülltem Wassereimer auf einen Stuhl und schon trifft der kühle nasse Schwall meinen Kopf und läuft prickelnd über meinen ganzen Körper bis in die Schuhe. Herrlich! Mindestens eine halbe Stunde kann ich nun meine Körpertemperatur niedriger halten, dann geht es wieder in die Berge. Zwischendurch wieder mal Stopp in einem Pub. Cola für mich und Wasser für die Flaschen. Die Leute sind echt nett hier.
Auf den letzten Kilometern nach Bristol mache ich die Bekanntschaft mit Rob von der Firma Tailfinn, deren super praktische Radtaschen wir auch verwenden. Die Kilometer schmelzen beim Quatschen nur so dahin. Rob hat es gut, er wird seine Fahrt in Bristol beenden. Diesen Gedanken verbiete ich mir sofort. Es rollt im Moment ja gut. Wir fahren über die Clifton Suspension Bridge, ein fantastisches Bauwerk. Auch die Innenstadt begeistert mich. Allerdings stehe ich nach meinem Erlebnis am Nachmittag etwas ratlos vor dem Supermarkt. Da spricht mich ein Herr an, ob ich die GBDuro fahre? Ja. Da drüben an der Ecke sitze sein Freund Oliver Y., der sei auch dabei. Ich erzähle ihm von meiner Erfahrung in Bridgewater und dass ich Angst hätte, mein Rad hier draußen stehen zu lassen während des Einkaufs. Er bietet sich sofort an aufzupassen. Ich, vertrauensselig wie ich bin, gehe mich versorgen. Rad und Mann sind noch da. Ich gehe kurz mit zu Oliver und dann weiter zum Essen in den Park. Langsam wird es dämmerig, ich muss weiter. Ich bin grad wieder auf mein Rad aufgestiegen und nochmal zurück, weil der Helm noch auf der Parkbank liegt, da sprechen mich zwei junge Männer an, später werde ich erfahren, dass sie Loz und Jack heißen.
GBDuro? Ja! Nach einem Foto und einem kurzen Plausch, ich mache mir aus meinem fehlerhaften Englisch gar nichts mehr draus, fahre ich weiter. Ich radle durch die wunderschönen Siedlungen am Stadtrand von Bristol und hinein in die Dunkelheit. Vielleicht der Müdigkeit geschuldet schleichen sich wieder mal komische Gedanken ein. Was ist, wenn diese Männer, die ich getroffen habe, böse Gedanken haben? Wie leicht bin ich über Dotwatching.com verfolgbar. Was ist, wenn ich eines Nachts überfallen werde? Eine Frau allein unterwegs im Dunkeln? Eine leichte Beute. Weg mit diesen Gedanken!!
Nach Bristol gibt es eine Umleitung. Der Weg zur Severn-Bridge ist gesperrt. Ich verpasse nach vielen Kilometern im Dunkeln wohl ein Umleitungs-Schild und fahre noch viele unnütze Kilometer weiter. Danach Ratlosigkeit, ist die Brücke gesperrt und ich nun falsch? Ich habe Glück und treffe zu so später Stunde auf zwei Männer, die mir bestätigen, dass ich hier einfach grad weiterfahren soll. Erleichterung.
Drei kleine Berge liegen vor mir. Ich beschließe über die drei noch drüberzufahren und dann einen Schlafplatz zu suchen. Es lässt sich wieder sehr steil an und die Kilometer ziehen sich, ich verfahre mich, finde den richtigen Weg nicht gleich, komme nicht so weit, wie ich wollte. Vor dem dritten Anstieg finde ich eine nette Lichtung vor einer Bachquerung. Zelt raus und Bett vorbereitet. Diese Nacht werde ich mir 2h Schlaf gönnen, eingelullt durch das Wasserrauschen. Der nächste Tag steht als Schreckgespenst vor mir, es würde so richtig schwer werden durch den Brecon Beacons Nationalpark mit dem berüchtigten „The Gap“, einer beliebten Mountainbike-Strecke.
Tag 3:
Als ich weiterwill, verlaufe ich mich gleich wieder. Also zurück. Der „Weg“ geht über halb Meter hohe Stufen. Dann endlich wieder eine Abfahrt und im nächsten Ort ein McDonalds. Frühstück in Brynmawr!! Eine freundliche Mitarbeiterin führt mich, die ratlos vor dem Bestellboard steht, in die Geheimnisse des Mackie ein. Wäre ich vor dem Angebot davor glatt verhungert. Mein Bike bekommt anschließend auch noch eine Kettenpflege. Dann kann es losgehen Richtung „the Gap“. Bei Gregs nebenan erstehe ich noch ein mindestens einen halben Meter langes Sandwich mit Käse und Schinken und so ein Blätterteig-Teil mit Chicken-Füllung. Das muss für die nächsten 130 Kilometer reichen. Es fängt an leicht zu regnen. Nicht so schlimm. Nach der ersten langen Steigung bin ich auf einer almähnlichen Hochfläche. Von hier geht es wellig abwärts ähnlich einem Pumptrail. Sehr unterhaltsam, bis es durch Farnwäldchen runterzuschieben ist bis zum Stausee bei Ponticill. Die nassen Steine sind äußerst rutschig. Aber zuerst mal Brotzeit machen. Hmmhmm, wo ist denn das Sandwich? Verschwunden. Wahrscheinlich durch das Gerüttel. Die Schafe werden sich freuen. Mögen die überhaupt Sandwiches? Strafpunkte für mich? Glaub eher nicht, denn Papiertüte und belegtes Brot sind doch biologisch abbaubar, oder? Ich werde allerdings hungern müssen. Wer weiß, wann ich wieder zu einer Einkaufsquelle komme. Verlieren ist wohl meine Spezialität, siehe Northcape4000.
Nach dem Stausee, bei dem wie bei unserem Reschensee eine Turmspitze aus der Wasserfläche ragt, kommt eine lange feine Gravelstrecke. So könnte es meinetwegen ewig weiter gehen. Und da geht es schon rechts weg. Für mich unfahrbar. Große Steine, tiefe Löcher, unergründliche Pfützen. Die Länge ist aber überschaubar, etwa 2 km und in der Ferne kann ich schon den Pass ausmachen. Und dann die bittere Erkenntnis, dass ich auf der anderen Seite auch wieder hinunterschieben muss.
Dachte ich, dass ich nach zwei fast schlaflosen Nächten in Ysbyty Cynfyn, der Kontrollstelle, so richtig Schlaf nachholen könnte, so sehe ich langsam ein, dass das wohl eine Illusion sein wird. Dachte ich, dass wohl Tag 2 DER walking day gewesen wäre, so wurde ich eines Besseren belehrt, auch Tag 3 bedeutet oft walking up und walking down. Über den Gap würde ich sicher auch mit MTB nicht runter fahren.
Heute überkommt mich zudem die Erkenntnis, dass ich inzwischen Fachfrau für Weidegatter bin. Es gibt unzählige Versionen von Öffnungsmechanismen. Bei der ersten Gelegenheit stand ich minutenlang vor dem Rätsel und dachte „ich Depp!“ Drüber heben nicht möglich, weil zu hoch. Die Gitter sind nicht wie bei uns „Riegel auf – Riegel zu“, nein, sie haben meist noch einen zusätzlichen Sicherheits-Mechanismus. Wahrscheinlich sind die Schafe hier schlauer als bei uns. Apropos Schafe: Es gibt hier mindestens 10-mal so viele wie Einwohner. Und jede Gegend hat ihre eigene Schafrasse sowie eigene Öffnungsmechanismen bei den Gattern.
Nun folgt am späten Nachmittag noch eine mindestens zwei Kilometer lange Steigung mit an die 20%, ein riesiges Militär-Areal ist zu durchqueren und das nach 3000 Höhenmetern in den Beinen heute. Dann endlich das Örtchen mit dem Zungenbrechernamen Llanwrtyd Wells. Wider Erwarten ist der dortige Supermarkt in Betrieb. Ausgehungert stürze ich mich auf Sandwich, Kefir, Yogurt, Milchreis, Wasser, Kekse, mein langsam etwas eintönig erscheinendes Mahl. Ich aber bin glücklich.
Dann trennen mich nur noch 70 Kilometer von der Kontrollstelle. Ich starte gegen halb sieben auf diese letzte Anstrengung. Es geht angenehm über Gravel kilometerlang durch Wälder, an Seen entlang. Die Sonne geht unter.
Ich bin allein. Stundenlang schon keine Menschenseele. Simon hatte mich vorher überholt und war schnell verschwunden. Am Himmel ziehen dunkle Wolken auf. Aus den Augenwinkeln sehe ich einen Blitz. Hilfe! Ein Gewitter! Fehlalarm, es war wohl nur meine Fantasie oder eine Spiegelung meiner Sonnenbrille.
Meine flotte Fahrt wird jäh unterbrochen. Wieder mal stoppt mich ein Weidegatter. Aber auch mit meiner inzwischen umfangreichen Erfahrung mit verschiedenen Mechanismen komme ich nicht weiter, dieser ist zwar einer der vielen gelernten, aber das Gitter ist zusätzlich mit einer dicken Kette versperrt. Verzweiflung. Wie soll ich da drüber kommen? 20 Kilo über eine Stange in Brusthöhe oder höher wuchten? Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe.
Und einige Kilometer weiter das nächste. Hier schwirren zudem zig Mücken um mich rum, die hatten wahrscheinlich hungrig schon auf ihr nächstes Opfer, das nicht schnell flüchten kann, gewartet, nun nach 3 Tagen ohne Dusche lecker duftende Radfahrerin. Aber zumindest war die Dusche schon in greifbare Nähe gerückt, glaubte ich zumindest.
Und keine 5 Minuten später das nächste Gitter. Ich verfluche innerlich meinen Göttergatten, der mich durch seinen Wunsch als Solo-Fahrer anzutreten so schändlich im Stich gelassen hatte. Inzwischen habe ich wohl eine bestimmte Technik entwickelt: Vorderrad über die Stange, Sattel auf die Schulter gestemmt, Hinterrad hinterher. Das Rad hängt nun auf der anderen Seite, ich hinterher geklettert, dann Rad runter gehoben. Als ich wegfahren will, ist der Lenker blockiert. Hab ich was kaputt gemacht. Ich schiebe Beutel und Taschen beiseite. Brems- oder Schaltkabel hatten sich am Vorbau verklemmt. Der Kabel ist außen etwas beschädigt. Hilfe! Hoffentlich macht das nichts.
Es wird dunkel. Endlich bin ich in Pontrhydfendigaid -unaussprechlich- nun liegen NUR noch 20 Kilometer vor mir. Lächerlich wenig, so wie Brixen-Klausen oder so. Nicht einberechnet die fast 1000 Höhenmeter und es wird wieder unwegsamer. Ich irre scheinbar kreuz und quer durch die Wälder. Verfahre mich nicht nur einmal und kippe auch nicht nur einmal um, mitgerissen durch das Übergewicht meines Gravel-Traktors. Die Erschöpfung nimmt langsam überhand. Sekundenschlaf-Attacken. Einmal schrecke ich hoch, bin fast stehen geblieben und weiß im Augenblick nicht, wie ich hier hingekommen bin, wo ich überhaupt bin, in welchem Land und was ich hier mache. Irgendwann erreiche ich den Punkt, an dem die Kontrollstelle sein sollte und an dem ich das time-stamp-foto machen sollte, ein Bild mit Datum und Uhrzeit als Beweis. Hier ist aber nichts. Eine verlassene Farm oder schlafen hier vielleicht alle schon? Beweisbild gemacht und dann entscheide ich mich dem Track weiter zu folgen. Müdigkeit und Verzweiflung, ich will mir ein paar Tränen aus den Augen drücken. Geht nicht. Ist wohl der Flüssigkeitsmangel. Etwas weiter ein verschlossenes Tor, daran hängt ein Blatt mit einem Hinweis für die GBDuro-Racer: Dem Zaun parallel zur Straße folgen, bis zu einem Haus, das Lager ist gegenüber davon hinter den Büschen. Aber wo ist die Straße? Und wo das Haus? Ich sehe im Dunkeln weder das eine noch das andere. Verzweiflung. Ich irre dem Zaun entlang. Da! Ein Licht! Von Links kommt Simon und sagt mir den Weg. Erleichterung! Im Lager schält sich Hermann aus seinem Biwaksack. Er zeigt mir alles. Ich bekomme noch etwas Warmes zu essen. Dusche? Nach drei Tagen hatte ich mich darauf so gefreut. Fehlanzeige, diese sei nun leider außer Betrieb. Defekt! Ist mir im Moment aber egal, ich verschwinde schleunigst in meinem auf der feuchten Wiese aufgeschlagenen Zelt, der (kurze) Schlaf kann kommen. Bis auf die fehlende Waschmöglichkeit für mich, der Chef der Kontrollstelle von Daf’s Farm hat alles getan, damit man sich dort sehr wohl fühlen konnte. Die Versorgung war fabelhaft, es gab Wasser, ein Toilettenhäuschen, eine ebene Wiese. Was will frau mehr.
Stage 2: Ysbyty to Garrigill
Tag 4, 5 und 6
470 km/ 7100 Hm
Tag 4:
Am nächsten Tag nach gemütlichem Frühstück und Zusammenpacken der Start auf die nächsten 3 Tage. Entsetzt stelle ich fest, dass meine Planungsblätter weg sind. Hermann gibt mir seine Kopie. Bin ich froh, ohne diese wäre ich komplett ziellos durch die Gegend geirrt. Ihm schicke ich die digitale Version, er fährt eher ins Blaue hinein. Heute soll es auch wieder hart werden, fast 4000 Höhenmeter verteilt auf 7 „Berge“. Wales ist berüchtigt. Viel Auf und Ab erwartet mich. Es lässt sich fein an. Einrollen über ein welliges Asphaltsträßchen. Angenehm? Naja, vor allem wieder steil. Ich habe Zeit nachzudenken. Warum sind die Straßen hier so steil? Ich glaube die Lösung gefunden zu haben. Man spart Material, sprich Teer. Aber wir sind doch noch nicht in Schottland, oder? Was ich noch verstanden habe: das Motto der GBDuro ist, dass es ein „rolling Picknick“ ist durch die unterschiedlichsten Landschaften. Stimmt! Denn heute ist es wieder mal soweit, ein Supermarkt, dann wieder lange nichts. Ich muss also wieder Essen und Trinken für den ganzen Tag und die nächste Nacht mitschleppen. Übrigens: Wasser gibt es hier in Wales genug zu kaufen.
Genug des Nachdenkens, es geht wieder ins Gelände. Steine, Pfützen, Steine, 10 Kilometer und 100 Höhenmeter- das ist doch easy, dachte ich mir, aber die stop-and-go-Fahrt ist sehr mühsam.
Eine Flussdurchquerung. Hermann zieht sich gerade auf der anderen Seite die Socken und Schuhe wieder an. Ist mir zu aufwändig. Ich wate einfach durch. Meine Schuhe und Sochen warten eh dringend auf eine Wäsche. Dann eine etwas ruckelige Abfahrt. Angenehmer. Ich finde Dextro Energen, 50m weiter ein Riegel, die interessieren mich nicht. Wieder etwas weiter ein Snickers, der muss mit. Da hat wohl jemand seinen gesamten Proviant verloren.
Supermarktstopp. Ich treffe auch einige andere, die aber schon beim Abfahren sind. Bei mir ist heute anscheinend etwas die Luft raus. Hatte ich gedacht nur „the Gap“ sei schwierig, ich werde langsam eines Besseren belehrt. Besonders die stetigen Steigungen über 15% tun so weh.
Inzwischen gibt es schon einige Fahrer*innen, die schon vor der ersten Kontrollstelle aus dem Rennen ausgestiegen sind. Und ich fühle mich als Letzte der Verbliebenen, es sind nicht mehr wie 2 bis 3 hinter mir. Aber ich genieße die anstehende Asphaltfahrt durch ein idyllisches Tal in den Ausläufern des Snowdonia-Nationalparks und bin auch etwas Stolz, dass ich zumindest bis hierhin durchgehalten habe, kann nur besser werden … oder …
Und schon wieder Gravel durch unendliche Wälder und dann die unterhaltsamen Trails CLIMACHX easy rider und dann va-va-voom. Ganz leicht tue ich mich mit meinem schweren Gravel-Taktor nicht das Gleichgewicht zu halten und durch die schmalen Wege und engen Kurven zu manövrieren. Mein Bike reißt mich immer öfter fast zu Boden.
Dann weiter hügelig leicht durch ein wunderschönes Tal und an dessen Ende DER Hammer: Einige Kilometer über Teer mit 20% und mehr. Für mich Schiebestrecke. Also auch heute Wandertag! Zwischendurch packt mich der Irrsinn: Radreinigung an einem Rinnsal. Zum Glück sieht mich niemand. Sind ja schon alle weg. Und das Putzen macht auch absolut keinen Sinn werde ich bald feststellen. Tolle Abfahrt übrigens, aber der nächste „Berg“ wird auch wieder megahart, nicht durch die Höhenmeter, sondern wegen des steinigen Weges, der sich in unendlich weite Ferne schlängelt. Hinunter geht es auch ruppig, die Handgelenke tun vom Gerüttel schon weh. Dann auf einmal feiner Schotter. Super! Ich brause talwärts. Nach einem halben Kilometer meldet die Garmin eine Streckenabweichung. Oh nein, wieder hoch …
Nun noch drei Berge und ich werde endlich wieder schlafen. In einem Tante-Emma-Laden bin ich die letzte vor Ladenschluss. Glück gehabt. Beim Losfahren treffe ich eine kleine Familie mit Hund. Dieser kläfft zweimal, dann habe ich ihn schon an meiner Wade hängen. Aua! Aber ich bin nun wieder putzmunter.
Es dämmert nun, als ich an den nächsten Aufstieg gehe. Ich treffe auf 2 Mountainbiker und mit Quatschen vergeht die Zeit. Der Aufstieg ist ganz ok, aber dann das Unerwartete: unfahrbarer Abstieg. Ich bin kilometerweit von der nächsten Siedlung entfernt, es ist dunkel, was ist wenn man sich hier verletzt? Kein Empfang, schon seit Stunden keine Menschenseele. Es wird kalt. Die brütende Hitze der ersten Tage ist vorbei, es hat grad mal 12°. Gegen Mitternacht habe ich noch einen kurzen aber heftigen Anstieg, dann entschließe ich mich, den letzten Berg sein zu lassen und mir einen Schlafplatz zu suchen. Das war eine äußerst weise Entscheidung. Es fängt an zu tröpfeln und als ich in Llangeollen in einem Schulpark mein Zelt aufgebaut hatte, gießt es wie aus Kübeln. Wecker auf 2 Uhr gestellt, dann aber bis 3 Uhr verlängert, da es immer noch regnet.
Tag 5:
Da Einpacken des nassen Zeltes ist nicht so angenehm. Es ist bitterkalt und ich freue mich, dass es gleich bergauf geht. Sehr steil, deshalb ist wieder mal fahren-gehen-fahren-schieben angesagt. Ich erreiche ein Hochmoor. Hier soll es wieder ins Gelände gehen. Ich folge der lila Linie auf meiner Garmin. Ein schmaler Weg führt durch Erika-Stauden. Meine Füße sind eh schon nass, aber jetzt werden sie klatschnass. Immer wieder versinke ich im Morast. Die Steigspuren verschwinden so langsam, ich quäle mich inzwischen durch hüfthohe Pflanzen. Kann das stimmen? Doch, ich befinde mich genau auf der Linie. Völlig durchnässt und verzweifelt bleibe ich stehen und schaue ratlos rundum, es dämmert leicht. Da fällt mir etwas Weißes auf, länger als ein Schaf. Ich wate darauf zu. Ein schmaler Plattenweg aus hellem Gestein. Mein Weg! Gerettet.
Bald endet dieser vor einem Wäldchen. Es stürmt und tröpfelt. Vor einem Gatter ein oranges Rad und ein Biwaksack. Bin ich froh, dass ich nicht hier schlafen musste. Ein Trail durch den Wald folgt nun, nass und rutschig. Ich verfahre mich mehrmals und hab wieder mal düstere Gedanken: warum bin ich hier? Alleine?
Ende des Single Trails. Sprühregen. Hier gibt es einen Freizeitpark. Verschlossen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Zwei riesige orange Gatter versperren meine Weg. Fast 2 m hoch. Hier komme ich nie und nimmer drüber mit dem Rad. Ich irre hin und her und entdecke niedergetrampeltes Farnkraut, dahinter einen nicht so hohen Stacheldraht-Zaun. Wie ich da drüber gekommen bin – keine Ahnung.
Der nächste Supermarkt-Stopp kommt bald, zum Glück hat der gegen 7 Uhr schon offen. Ein Becher Latte Caramel XL mit dreimal Zucker belebt meine Lebensgeister. Es geht nun viele viele Kilometer recht flach bis Manchester.
In Chester mache ich kurz halt bei einem Mechaniker, der mir aber auch nicht helfen kann oder will. So ziehe ich weiter. Die Schaltung macht nach wie vor Probleme. Hoffentlich bricht das Kabel nicht früher oder später. Es gab schon ziemlich einige Ausfälle von Teilnehmern durch technische Probleme. Aber ich WILL weiter, auch wenn es mega hart ist.
Das Wetter ist nun schön geworden. Meine Sachen trocknen langsam, auch die Füße. Boxen-Stopp bei einer Kiste mit verführerischen Früchten am Straßenrand. Ich labe mich mit Pflaumen und Äpfeln und stopfe mir auch noch die Tasche voll. Beim Wegfahren fällt mir ein umgefallenes Kärtchen auf. Freiwillige Spende? Ich habe nur einen 100-Pfund-Schein. So fahre ich als Zechprellerin weiter. Diese rächt sich wohl gleich: Es fängt wieder an zu regnen, ich verfahre mich.
Um die Mittagszeit ereilt mich eine große Müdigkeit. Was tut frau da ihrem Körper an? Dem Körper keinen Schlaf gönnen kann das nicht tödlich enden? In gewisser Weise schon … ich erschrecke fürchterlich, an mir braust ein Riesentraktor vorbei mit Anhänger, mindestens mit 100 km/h. Wenn man da unter die Räder kommt … Ich entschließe mich für einen Powernap auf einer Bank. Davor ein Radfahrer, der mich in ein Gespräch verwickeln möchte. GBDuro? Ach so, ein Dotwatcher. Ich bin aber so müde, dass ich ihn abwimmle, er zieht enttäuscht von dannen und ich versuche ein paar Minuten zu dösen, nachdem ich den Wecker auf 20 Minuten gestellt habe.
Im nächsten Dorf große LKW und Kameras. Ein Filmteam dreht. Die Kulisse ist aber auch wunderbar. Ich nehme mir vor zuhause zu googeln: Es ist Great Budworth, das bei Filmregisseuren anscheinend sehr beliebt ist.
Die langen ebenen einfachen Abschnitte lassen mir viel Zeit nachzudenken: Jetzt ist mal das Linksfahren dran. Wenn es kritisch wird, hilft Nachdenken gar nichts, man macht es wie man gewohnt ist. Müde und unkonzentriert findet man sich so rasch in lebensgefährlichen Situationen wieder. Ich überlege mir, wie ich mir eine Eselsbrücke bauen könnte. Geht man bei uns über die Straße, muss man zuerst links schauen, hier rechts. Abbiegen mit dem Rad links ist easy, es ist nur zu gucken, ob aus der rechts was kommt. Beim Rechtsabbiegen wird es komplizierter. Ich komme auf keinen grünen Zweig. Also am besten warten, bis die gesamte Straße frei ist und schnell rüber auf die andere Seite.
Die letzten Kilometer vor Manchester führt die Strecke schon entlang eines Kanals mit angetäuten Hausbooten. Im Zentrum dann ein Gewimmel von Leuten, es ist relativ schmutzig und riecht nicht überall gut. Für mich Kleinstadt-Pflänzchen der reinste Horror. Mir ist die einsame Natur viel lieber. Schnell weg!
Ich muss mich noch versorgen, ist doch auf den nächsten 160 Kilometern wieder mal nichts und die nächste Nacht steht auch noch an. Ich fahre einen Supermarkt an, in der Tür ein Wachmann. Ich äußere meine Bedenken, dass ich Angst habe, mein Bike kommt weg. Was der wohl von mir hält, ein dreckiges voll bepacktes Rad, eine schmutzstarrende und wahrscheinlich nach 5 Tagen ohne Dusche müffelnde Fahrerin? Er erlaubt mir jedenfalls das Rad in das Geschäft zu schieben und an einem wackeligen Karton-Regal anzulehnen. Erleichterung. Was hätte ich sonst getan? Ohne Essen weiter?
In einem Vorort habe ich noch ein interessantes Erlebnis: In der Ferne kann ich einen Mann auf der Straße ausmachen. Sein ferngesteuertes Auto rast mit einem Affenzahn auf mich zu. Ich kann mit meinem schweren Gefährt nicht so schnell ausweichen und „knacks!“ fahre ich direkt drüber. Das Auto fährt noch und zurück zum Herrchen. Dieser schimpft wie ein Rohrspatz. Ich suche schnell das Weite. Fahrerflucht? Schuld habe doch nicht ich.
Ich mag mich heute übrigens gar nicht. In der vergangenen Nacht im Zelt habe ich mich gehasst. Klebrig, verschwitzt. Am Schlimmsten riechen die Socken. Waschen geht mit meinem Tuch, das ich an der Tasche festgemacht habe, ganz gut. Aber an den Kleidern kann ich nichts ändern. Der 5.Tag ohne Dusche. Was wohl die Leute in den Supermärkten sagen? Aber egal, schenkt mir ja niemand was dafür … Und: Das ist doch der Umweltgedanke pur – ich spare viel Wasser, Shampoo, Seife!
Aus Mancherster raus gibt es eine nette Gravelstrecke. An einer Tankstelle treffe ich auf Adele und ihren Mann, zwei begeisterte Radfahrer, die hier etwas dotwatchen. Sehr nett. Sie zeigen mir einen Wasserhahn.
Dann geht es wieder mal einen Windpark mit versperrtem Gatter. Irgendwie drüber und wieder Kabel gequetscht. Oje, das wird irgendwann wohl mal zum Problem werden. Kurzer Plausch mit einer MTB-Fahrerin, die das Gardasse-Gebiet kennt. Dann weiter. Raus aus dem Windpark, juhu, kein Gatter!
Vor dem nächsten Berg mache ich erst mal eine Ess-Pause. Und kurz danach komme ich bei einem Teich mit Imbisbude vorbei. Und schon wieder Pause bei Latte und Kuchen. Kein Wunder, dass ich so langsam weiterkomme. Aber man gönnt sich ja sonst nichts.
Dann wird es wieder dunkel. Ich komme wieder mal an ein verschlossenes sehr hohes Gatter. Dahinter kann ich ein Haus ausmachen. Ich sehe eine Klingel. Aber kann ich um diese Uhrzeit klingeln? Ich versuche es in die andere Richtung am Zaun entlang. Fehlanzeige, hier geht es nicht weiter. Wieder zurück. Den gegenüberliegenden Zaun entlang. Hier werde ich fündig. Im Mond-Schatten einiger hohen Bäume gibt es ein Tor für Fußgänger. Irgendwie kann ich mich und mein Bike da durchquetschen. Weiter geht es hinauf auf eine Art Alm. Immer wieder leuchtende Kugeln am Wegesrand. Die reflektierenden Schafaugen. Ich schiebe einen Serpentinenweg hinunter, dann wieder erste Häuser.
Ich beschließe den Tag hier zu beenden und suche mir auf einer Wiese hinter einem Zaun ein Schlafplätzchen. Ich wundere mich noch über die hohen Töne, die hier ab und an zu hören sind. Auf dem Schild am Tor steht was über Diebstahlschutz. Muss ich zuhause googeln.
Zwei Stunden später wieder Abfahrt. Ich hatte mir den Wecker auf 3:15 gestellt, er ging allerdings nicht los und so wurden es eine Stunde später.
Tag 6:
Dachte ich, heute gibt es einen „gemütlichen“ Tag, so wurde ich bald eines Besseren belehrt. Wieder mal Fehlschluss. Es geht unendlich weit über Weiden, Gitter auf Gitter zu. Einige Kilometer fahre ich mit Steve und wir unterhalten uns köstlich. Der Spaßvogel ist bester Laune, obwohl er schon einige Pannen hatte, u.a. brach der Rahmen, an dem seine Tasche befestigt ist, dann wurde er in einer öffentlichen Toilette, in der er nachts seine Wäsche waschen wollte, eingesperrt und musste bis am nächsten Vormittag auf Befreiung warten, an Schlaf war nicht zu denken, da er fürchterlich fror mit den nassen Sachen. Die Pechsträhne ging noch weiter. Irgendwann beginnt es wieder zu regnen, unsere Wege trennen sich. Ich muss zuerst mal meinen Milchreis aus der Packtasche löffeln. Keine gute Idee auf den Holperstrecken Joghurt- und Milchreisbecher übereinander zu stapeln in der Tasche.
Einschub: Unendlich sind die Möglichkeiten Zeit zu verlieren. Zusammenfassung und Vorschau:
- Sich in Toiletten-Häuschen einschließen zu lassen
- Essen ungünstig einpacken und Entfernung der sagenhaften Sauerei
- Fotografieren/ Filmen
- Smartphone verlieren
- Rad und Zubehör reparieren
- Der eigenen Gattin zu Hilfe eilen (betrifft mich nicht, aber Zeitverlust ist immens)
- Verpennen
- Körperreinigung unterwegs nach vielen Tagen ohne Duschen. Ist eh sinnlos, für wen denn?
- Einkaufen ohne Plan
- Zuviel Zeug rumschleppen. Jedes Kilo zu viel verlangsamt die Reise.
- …
Die folgenden Abfahrten sind richtig flott. Der vorletzte Berg vor der Kontrollstelle wird hart. Nicht nur, dass Schieben angesagt ist, es regnet stark und ist stürmisch. Irgendwann blockiert mein Hinterrad. Nanu? Der Spannriemen meiner Tasche ist von dieser runtergerutscht und hat sich verklemmt. Zum Glück passierte das beim Langsam-Fahren, nicht auszudenken eine paar Kilometer später bei der Abfahrt. Das hätte böse ausgehen können. Da muss sich Tailfinn unbedingt was einfallen lassen.
Nun sause ich dahin. Entlang einer Eisenbahnstrecke und vielen Viadukten, wie man sie aus Harry Potter kennt. Es läuft super. So schön kann Radfahren sein. Vor Kirkby Stephen holt mich die Müdigkeit ein, es ist auch schon später Nachmittag. Mitten auf der befahrenen Kreuzung ein Bänkchen. Das kommt wie gerufen. Wecker auf 15 Minuten und Powernap.
Anschließend nur noch ein letzter (sehr steiler) Anstieg und 10 Kilometer runterrollen zur Kontrollstelle Garrigill. Das wird nicht mehr so schlimm sein. 600 Höhenmeter geht es nun noch hoch. Easy, wenn man an vergleichbare Anstiege bei uns denkt. Vor mir ein Radfahrer. Übermütig beginne ich die Jagd, der wird doch einzuholen sein. Es ist Miles, der wieder mal filmt. Ich versuche möglichst frisch auszusehen und so zu wirken, als machte mir dieser wieder mal mörderisch steile Anstieg gar nichts aus.
Miles berichtet, Hermann sei hinter mir. Ich ungläubig, das kann unmöglich sein, der ist sicher schon seit Stunden auf dem Campingplatz.
Zum Glück fährt Miles Simon hinterher, der von hinten aufgeschlossen hatte und ich kann verlangsamen und muss das hechelnde Luftschnappen nicht unterdrücken. Ein Auto kommt entgegen. Jemand steigt aus und erzählt er habe Brownies gebacken, ob er mir einen anbieten darf. Liebend gerne, aber darf ich das? Miles ist ja weg, so nehme ich dankend an.
Kurz darauf holt mich wieder jemand ein: Hermann. Wie gibt es das denn? Wo soll ich ihn überholt haben? Er erzählt, er habe in Kirkby Stephen, meinem Powernap-Halt, 5h auf mich gewartet, weil ihm Simon erzählt habe, nach dem Pass würde es sehr schweres Gelände geben. Der Liebe!
Das hatte ich nicht auf dem Schirm. Wirklich, die letzten 10 Kilometer waren Gehgelände, zumindest die Hälfte. Und dabei war es auch nicht leicht, den richtigen Weg zu finden. Da es jetzt auch langsam dunkel wurde, bin ich nicht unfroh nicht alleine zu sein.
Es ist wieder spät, als wir Garrigill erreichen.
Und hier, juhu, eine funktionierende heiße Dusche, Möglichkeit die Kleider zu waschen, leckeres Essen und nicht zuletzt schlafen, 5h sollten es sein, welcher Luxus. Mein Zelt muss ich im leichten Regen aufstellen und unter Mückenplage. Die Biester sind schrecklich. Millionen umschwirren und peinigen dich, gehen vor allem auf Augen und Ohren los. Ohne Mückennetz ist man machtlos. Die Aussicht auf saubere Kleidung ist auch klasse, der Trockenraum aber bis auf die letzte Ritze behängt. Mehr als Halbweg ist geschafft.
Zu betonen ist, wie nett die Crew der Kontrollstelle uns umsorgt haben! Vielen Dank noch einmal!
Und nun geht eigentlich mehr oder weniger alles -um es mit einer Redewendung zu sagen- den Bach runter …
Stage 3 : Garrigill to Fort Augustus, Inver Coille Camping, Loch Ness
Tag 7, Tag 8 und 9
510 km/ 6500 Hm
Tag 7
Nach dem reichhaltigen Frühstück und nach Zusammenpacken unter Mückenplage fühle ich mich wie neu. Die Strecke führt auf einem idyllischen Radweg entlang einer stillgelegten Bahnlinie. Ein kleines Hindernis bringt mich nicht aus der Ruhe, der Track verlässt den Radweg und führt über eine ruppige Weide mit anschließendem Über-den-Zaun-heben – wieder mal. Kurz danach die nächste Erschwernis. Es bleibt frau auch wirklich nichts erspart: Vor einem wunderschönen alten Viadukt muss man ab von der Strecke, das Bike über unzählige glitschige hohe Stufen runterheben und dasselbe auf der anderen Seite wieder hoch (20kg sei Dank = Schwerstarbeit). Im nächsten Örtchen, Alston, ist erst mal Einkaufen angesagt. Beziehungsweise, versuche ich erstmal einen Radmechaniker zu erreichen, der sich meine Schaltung mal anschauen kann. Langsam habe ich den Verdacht, dass es nicht mehr lange bis zu einem Kabelriss dauern kann. Verständnisschwierigkeiten am Telefon. Dann fahre ich halt so weiter. Ich besuche noch kurz ein Café, in dem ein Mitarbeiter des Mechanikers arbeitet, der aber hat keine Zeit. Beim Einkaufen im Supermarkt sucht mich netterweise der nette Herr, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte und gibt mir eine Kontaktadresse, aber das ist wiederum der vom Café. Nette Geste, aber leider vergeblich. Ich mache mich nach dem Einkauf und Costa-Latte mit meinem um einiges schwereren Rad auf den Weg. Es stehen an die 200 Kilometer ohne Versorgungsmöglichkeiten an.
Es geht weiter easy durch ländliches Gebiet, nach einem Verkehrsschild „Red squirrels“ – Achtung Eichhörnchen, wird es ein paar mal wieder unerträglich steil. Dann wieder Schotter, stundenlang durch den Nationalpark Kielder Water, aber leichtes Gelände. Irgendwann ein Durchfahrtverbot wegen schwerer Waldarbeitsgeräte. Was nun? Zurück- unmöglich. Ich schiebe mein Rad durch Matsch in Richtung der Arbeitenden. Die Räder der Maschinen sind enorm hoch. Hoffentlich sehen die mich. Ich komme unbeschädigt weiter.
Etwas später holt mich Steve ein. Die nächste Steigung bewältigen wir gemeinsam. Nach einer rasanten Gravelabfahrt ein Kleintransporter am Wegesrand. Er wartet auf Oliver, der hier aussteigen will, leider wieder einer weniger um mich herum. Und noch etwas weiter holt uns Christophe aus Belgien ein, der Führende der zweiten Stage. Wieso denn das? Freilaufschaden, er hat nur noch 2 Gänge zur Verfügung. Weit und breit keine Möglichkeit das zu reparieren auf den nächsten 200 Kilometern. Schade, er wäre Anwärter auf den Sieg gewesen. Nun sind die Führenden beider Stages raus, denn Alex hat aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. So schnell kann es gehen … Das werde ich in den nächsten Stunden auch erfahren … (Christophe und Alex waren Teil unserer Fahrgemeinschaft nach Land’s End).
Ich überfahre nun irgendwo die schottische Grenze. Nach einem Berg kommt bekanntlich wieder ein Tal, in dem es „flutscht“. Angenehme Steigung, Asphalt, was will frau mehr. Ein Moment der Unachtsamkeit und ab nun geht so ziemlich alles schief: Mein Vorderrad kommt von der Straße ab, der Straßengraben rast auf mich zu, ich stürze und mein Bike verkeilt sich unter der Leitplanke. Der Lenker ist verbogen, ich habe mir zum Glück außer ein paar Schrammen, nichts getan. Minutenlang versuche ich das Rad wieder freizubekommen und den Lenker mit meinem Tool aufzuschrauben und grade auszurichten. Dann bin mit zitternden Knien wieder on the road. Erst später werde ich draufkommen, dass die Lampe nicht mehr funktioniert und ich über den Nabendynamo auch nicht mehr laden kann. Katastrophe. Das Ziel rückt in weite Ferne. Wie soll ich dann ohne Lampe und ohne Stromversorgung nach JOG finden? Kommunikation und Streckenverfolgung ohne geladenen Akku unmöglich. Vermutlich bin ich wohl auch bald raus. Ich erreiche Hermann. Er sitzt einige viele Kilometer weiter in einem Pub beim Abendessen und verspricht zu warten. Ich steigere die Geschwindigkeit, die Kilometer ziehen sich, mein Garmin macht Mätzchen, das Problem löst sich zum Glück durch einen Neustart des Geräts. Die Dämmerung bricht herein, es wird bitterkalt, auf einmal habe ich eine Art Erscheinung: „Gabi, hier warst du schonmal! Nein, du gute Frau, du spinnst wohl, das ist sicher wieder mal ein Zeichen von Übermüdung …“ Später werde ich draufkommen, dass ich hier bei der LEL (London-Edinburgh-London) vorbeigekommen bin. Ich trudle im Tushielaw Inn ein. Die Küche ist leider schon zu, aber mein enttäuschtes Gesicht erweicht den Chef des Hauses und ich bekomme noch ein Sandwich und kann mich mit einem heißen Getränk aufwärmen.
Auch Steve und Simon finden hierher und zusammen bilden wir eine lebhafte Gesellschaft, lustig, wenn meine Gedanken nicht verdüstert wären durch mein drohendes Ausscheiden. Was könnte der Grund des Nicht-Funktionierens meines Ladegeräts sein? Hermann meint, es liege vielleicht an einem Kurzschluss, da der Lampenkabel beschädigt sei, die Kupferdrähte waren freigelegt. Kurzerhand wird das Lampenkabel gekappt und wie durch ein Wunder kann ich wieder laden. Ich plane nun, wie ich vorgehen könnte: Mit geladenem Reservelicht käme ich 2 Stunden weit. Wenn ich unterwegs irgendwo eine akkubetriebene zusätzliche Beleuchtung kaufen könnte, wäre ich gerettet.
Hermann und ich fahren einige Kilometer gemeinsam weiter. Es wird immer kälter und fängt auch wieder an zu tröpfeln. Es findet sich kein geeigneter Biwak-Platz, ein höherer Berg stand an. Irgendwo dann eine steinige Weide und wir beschließen aufgrund der Kälte beide in mein Mini-Zelt zu schlüpfen, etwas zu ruhen und bald wieder aufzubrechen. Wecker stellen wir fatalerweise keinen. Und Schock, es ist schon 6 Uhr als wir aufwachen, nicht 4 wie geplant. Mein Finish rückt in immer weitere Ferne. Ich würde die kommende Nacht durchfahren müssen, um den CP3 Fort Augustus pünktlich zu erreichen. Wie sollte das aber gehen ohne ordentliche Beleuchtung? Und mit einer Lampe, die nach spätestens 2 Stunden ihren Geist aufgibt?
Tag 8
Hermann fährt ab, ich muss noch das Zelt wegpacken. Der erste Berg bringt schwierigeres Gelände in der Auf- und Abfahrt, dann geht es über die nächste Erhebung, hier ist wieder mal Schieben angesagt. Runter ist fahrbar, aber auch nicht ganz leicht. Das schwere Rad, ein Drittel meines Gewichtes ist nicht so leicht manövrierbar und so reißt mich das Bike einige Male um. Bei einem der Stürze lande ich auf dem Rücken aber weich im Farnkraut. Beim Aufstehen sehe aus den Augenwinkeln ein Stück gelbes Drainage-Rohr. Im Tal, etwa 250 Höhenmeter tiefer, ich hatte gerade einen Bauernhof passiert, merke ich, dass mein Smartphone weg ist. Schock! Kopflos lege ich mein Rad neben die Straße und laufe den Weg zurück hinauf. Unterwegs treffe ich auf Simon, der hat aber nichts gefunden unterwegs. Ich stapfe in meinen Radschuhen weiter und merke zu spät, dass ich vom richtigen Weg abgekommen bin.
Durch das Farnkraut suche ich den richtigen Weg zu erreichen, das Garmin Gerät steckt am Rad, das hätte mir die Suche erleichtert. Etwas weiter oben die Erkenntnis, dass der Sturz nicht so weit oben war. Also wieder hinunter. Ich suche nach dem Rohr. Nichts. Ich stieg bis zu einem kleinen dichteren Farnwäldchens ab. Im Kopf das Szenario: Ich kann niemanden mehr kontaktieren. Ich weiß auch keine Telefonnummer auswendig. Schrecklicher Gedanke. Was tun? Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als nochmal hochzugehen, bis an den höchsten Punkt. Hier hatte ich nämlich das letzte Foto geschossen. Oben dann trifft mich eine weitere Erkenntnis wie ein Blitzschlag: Ich hielt nach diesem Drainagerohr Ausschau. Gelb und mit Rillen. Die zum Teil gelben Blätter des Farnkrauts schauten ähnlich aus. Vielleicht war das Rohr nur ein Hirngespinst? Ich drehte also jede der gelben Blätter unterwegs um. Nichts. Als ich mich zum zweiten Male dem Farnwäldchen näherte, leuchtet mir links was entgegen: Das Rohr und daneben – mein SMARTPHONE. Gerettet!!! Erleichtert fasse ich es und renne den Berg hinunter. Unterwegs ein neuer schlimmer Gedanke: Was, wenn mein Rad nun nicht mehr da wäre? Ich hatte es nicht abgesperrt und hatte Geld und Dokumente einfach so zurückgelassen. Erleichterung, als mein Gravel-Traktor noch dort liegt, wo ich ihn zurück gelassen hatte. Später wird mir Simon erzählen, dass der Farmer beim Rad stand und ihn gefragt habe, ob das sein Rad sei. Hahhhaaahhaa, GBDuro mit zwei Rädern fahren … Simon hat dem Farmer die Sachlage erklärt.
Dieser Zu-Fuß-Ausflug hatte mich wohl mindestens weitere zwei Stunden gekostet, eineinhalb Mal den Berg hoch, ca. 300 Höhenmeter und 4 Kilometer Fußmarsch. Das wird jetzt wohl das wirkliche Ende sein!
Mein Mut wird etwas gehoben, da es jetzt recht einfach weiter geht Richtung Falkirk mit seiner Attraktion „Falkirk Wheel“, einem spektakulären Schiffshebewerk.
Unterwegs überholen Simon und ich uns gegenseitig mehrmals. Dann bei einem Windpark wieder einmal ein gesperrtes Gitter. Darüberheben ist angesagt. Simon steigt auf der anderen Seite gerade wieder auf sein Bike. Keine Anstalten, mir zu helfen. Genau – das hatte ich ja vergessen – das Rennen ist streng SELFSUPPORTET – das gilt genauso für uns Frauen! Minutenlang stehe ich erst mal wie ein dummes Schaf vor der neuerlichen Aufgabe meinen Traktor da drüber zu wuchten und kann die Tränen gerade noch zurück halten. Obwohl nun Ebene angesagt, muss ich anschließend trotzdem schieben, der Weg ist „gepflastert“ mit einem bunten Gemisch an Scherben, da traue ich mich nicht drüber zu rollen.
Die letzten Kilometer geht es unterhaltsam nicht schwierig über eine Downhillstrecke. Ich hatte in Falkirk auch einen Bikeshop entdeckt, merke aber am Ende der Strecke, dass ich schon 3 Kilometer zu weit bin. Also zurück und das auch noch aufwärts. Der nette Mitarbeiter richtet meine Schaltung, tauscht die Bremsbacken, schmiert die Kette und das Wichtigste, hier kann ich ein Vorderlicht erstehen. Allerding werde ich beim Einsatz merken, dass das Licht eher dazu gedacht ist, gesehen zu werden und nicht als sinnvolle Leuchtquelle dient. Ich blicke nun aber wieder positiver auf die Strecke vor mir.
Es ist nun schon wieder später Nachmittag, wie schnell die Zeit vergeht … Die nächsten Kilometer gehen leicht, ein nächster Supermarkt-Stopp ist angesagt, da wieder über 150 Kilometer nichts sein wird. Meine Wahl fällt auf Morrison, nicht so gut, da es hier nur übergroße Packungen gibt. Meine Packtasche bekomme ich anschließend kaum zu. Gestärkt mache ich mich auf den Weg. Ich verfranse mich x-mal, muss wohl etwas aufmerksamer sein. Nach dem hübschen Örtchen Stirling dämmert es. Mich holen die düsteren Gedanken ein, denn der Wetterbericht droht mit Regen. Ich spiele mit dem Gedanken, hier aufzuhören. Das wäre ein idealer Ort sich am nächsten Tag abholen zu lassen, eine Weiterfahrt würde das wieder komplizieren. Mehrmals bleibe ich stehen und überlege. Pro und Contra wäge ich ab. Dann siegt die abenteuerlustige Gabi: Weiter, mal sehen, was kommt.
Nun liegt gemischtes Terrain vor mir. Im Dunkeln radelt Steve an mir vorbei, ich bin wohl jetzt Allerletzte. Es fängt an zu regnen, in kurzer Zeit bin ich völlig durchnässt. Also weiterfahren, das gibt etwas warm. Ich scheine auf einem Radweg zu sein. Es geht irgendwann auf Mitternacht zu, die Müdigkeit holt mich ein. Ich werde immer langsamer, friere, am liebsten würde ich mich jetzt irgendwo hinlegen. Aber hier im strömenden Regen? Irgendwann vor mir ein Dorf: Killin. Mitternacht ist lang vorbei, es geht auf Halbzwei zu. Ein Ambulanzwagen vor einem beleuchteten Restaurant. Ich klopfe. Nein, nicht offen, ich kann mich auch nicht kurz aufwärmen. Ich schlingere übermüdet und frierend weiter. Was mache ich hier? Ich hätte aufgeben sollen und das schon Kilometer zuvor. Den Tränen nahe trete ich weiter. Ein Haus mit Garten und dort steht wer. Und wenn ich hier einfach frage? Ich sehe keinen Ausweg mehr und muss mich schleunigst etwas aufwärmen. 6° und ich klatschnass. Ich frage den großen wie ein englischer Adeliger aussehenden Kerl, mit nicht kleiner Wiskey-Fahne, ob er nicht einen Platz hätte, an dem ich mich kurz aufwärmen könnte, eine Garage, ein Gartenhäuschen oder so. Was macht er eigentlich hier um diese Zeit, frage ich mich, aber meine Verzweiflung war riesengroß, keinesfalls könnte ich jetzt noch weiter fahren. Er schaut mich lange an, dann sagt er, er wollte mir helfen, führt mich in einen winzig kleinen überfüllten Raum. Er wohne hier im Moment, da er sein Haus wegen eines Events im Dorf vermietet habe. Ich kann mich umziehen, er bietet mir ein Glas Wiskey an, ein Feldbett wird aufgeklappt. Etwas mulmig wird mir schon, als er die Tür mit einem riesigen Schlüsselbund absperrt, über mich drüber klettert und in seinem Schlafsack verschwindet.
Tag 9
Nach einer Stunde des Aufwärmens bin ich schon wieder auf dem Weg, alles gutgegangen, der Herr wachte nicht mal auf, als ich meine Siebensachen zusammensuche.
Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. Ein nächster gut fahrbarer Berg wärmt mich auf. Auch die Abfahrt ist fein und es geht weiter durch ein Tälchen, sehr einsam. Hin und wieder ein Haus, dann ein Café an der Strecke, leider noch geschlossen. An der Abzweigung zum nächsten Aufstieg, die Sonne war gerade aufgegangen, treffe ich wieder auf Steve, im Gespräch mit einem Herrn, der mit drei Hunden unterwegs ist. Ich drücke gerade meine Enttäuschung aus, dass ich nun ohne Frühstück weiter muss in unbestimmte Endlosigkeit, da fragt der nette Herr, er lüde uns ein zum Kaffee, sein Anwesen sei grad mal 400 Yard weg. Steve und ich strahlen um die Wette. An der Tür ziehen wir unsere Radschuhe aus, sofort verbreiten sich unsere Sockendüfte in der ganzen Küche. Hier ist der Tisch reichhaltig gedeckt. Es gibt Porridge für uns mit Obst und heißen Kaffee. Herrlich.
Sehr dankbar brechen wir wieder auf. Der nächste Berg ist wieder unangenehmes Gelände. Aber irgendwann erreiche ich Loch Rannoch und damit wieder einige Kilometer Asphalt. Hier ist gerade ein Radrennen in Gange.
Anschließend 48 Kilometer Rüttelgelände, das heißt die Steine sind so groß, dass ich und mein Rad so richtig durchgeschüttelt werden und kein Ende in Sicht. Irgendwas kratzt an meinem Oberschenkel, da fällt auch schon eine Schraube zu Boden. Zum Glück habe ich es gemerkt. Ich pule das Ding wieder an seinen Ort, Abdeckung drüber und weiter. Langsam fällt wohl mein Rad auseinander. Dieses Rennen stellt wohl nicht nur an die Fahrer*innen, sondern ganz besonders auch an das Material riesengroße Ansprüche.
Loch Ossian, hier geht die Strecke auf einem super schnellen Gravel-Untergrund weiter und ich sause durch die Landschaft. Es macht richtig Spaß wieder. Auf einmal scheint es mir, dass mein Bike nicht mehr so leicht manövriert werden kann, schaue nach unten und sehe, dass Dichtmilch aus meinem Hinterreifen spritzt. Eine Panne? Ich fahre weiter, vielleicht verschließt sich das Loch ja wieder. Fehlanzeige, bald ist der Reifen ganz platt. Auch das noch! Mir bleibt auch gar nichts erspart. Aufpumpen hilft nichts, der Reifen springt von der Felge. Schei … Tasche runter, Werkzeug raus, Reifen runter, Dichtmilch rausputzen, Reifen auf Splitter kontrollieren, Schlauch rein, aufpumpen.
Inzwischen hält ein Geländefahrzeug. Ich bin erleichtert, als der Fahrer mir anbietet, falls ich in einer Stunde immer noch hier sei, mich mitzunehmen. Also ist das Ende der Welt wohl doch nicht so am Ende. Der Gedanke, dass hier für mich Schluss sei, tut mir nun doch wieder leid. Ein Mann und zwei Frauen halten. Nein, ich brauche keine Hilfe, sie warten aber ab, falls doch. So nett alle …
Dann wieder alles aufgepackt und weiter. Nur noch 60 Kilometer trennen mich von der nächsten Kontrollstelle. Diese gehen sehr schleppend, mein Reifen ruckelt, ist wohl nicht in sein Felgenbett gerutscht. Einer der höchsten Berge liegt noch vor mir, das sorgt mich etwas. Fast 500 Höhenmeter, das wären bei uns eigentlich sehr wenig, aber was ich bisher erlebt hatte, lässt mich schon ahnen, dass es nicht leicht würde.
Endlich bin ich dann wirklich in der Steigung und es läuft nicht rund. Das Gebiet ist sehr wasserreich und das bedeutet alle 50 Meter eine befestigte Wasserauskehre quer über den steinigen Weg. Unendlich oft muss ich absteigen, das Rinnsal überqueren, wieder aufsteigen. Endlos. Dann wird es ganz steil. Schieben angesagt. Die letzten Serpentinen quäle ich mich hoch. Dann ist endlich Abfahrt angesagt. Über einen steinigen steilen Weg. Höchste Konzentration ist angesagt. Nur kein Sturz! Die Handgelenke schmerzen höllisch vom krampfhaften Bremsen, trotz gefedertem Vorbau. 20 Kilometer schwierige Abfahrt. Irgendwann wollen die Tränen kommen, Tränen ohne Tränen, geht das? Ich führe mit mir Selbstgespräche. Maßregle mich, das habe ich so gewollt, jetzt solle ich gefälligst still sein. Es wird langsam dunkel. Und nun kommt meine Reservelampe zum Einsatz. Diese scheint nicht so schlechtes Licht zu geben, wenn ich nicht zu schnell fahre. Und wie lange, das wird sich zeigen. Irgendwann in der Ferne Lichter von Fort Augustus am Loch Ness. Die wollen aber nicht näher kommen. Endlos. Irgendwann dann angekommen, nun sind es nur noch 7 Kilometer bis zum Camping-Platz mit CP3. Es geht nun wieder bergauf. Interessanterweise liegen hier auf dem Weg dattelgroße braune Gebilde. Was? Hier wachsen Datteln? Da spielt mir wohl meine Müdigkeit wieder Streiche.
Es scheint mir, dass ich kreuz und quer durch den Wald schlingere. Wo ist CP3? Ich verfahre mich zig-mal. Irgendwann dann ein Licht zwischen den Bäumen. Hermann! Es hätte ein Hinweisschild gegeben, aber das hat mein „ersterbendes“ Licht leider nicht erfasst.
Geschafft, das hätte ich in den letzten beiden Tagen wohl nicht erwartet … Ich bin megaglücklich. Lagerfeuer, ich bekomme noch Pizza, Dusche, Zeltaufbau und der lang ersehnte Schlaf.
Stage 4: Fort Augustus to John O’Groats
Tag 10 und 11
400 km/ 4100 Hm
Tag 10
Allerdings ist dieser nach 5 Stunden schon wieder vorbei. Frühstück und Aufbruch zur letzten Stage. Knapp 400 Kilometer stehen an und dafür nur 2 Tage Zeit. Wer am zweiten Tag beim Abendessen um 20 Uhr vor Ort sein würde, der konnte sich FINISHER nennen. Und wie die Ausfall-Liste zeigte, würden maximal 18 von den 47 Eingeschriebenen in John O‘ Groats ankommen.
Drei Berge gleich nach Abfahrt. Und es ging gleich in die Vollen. Äußerst steiler Anstieg. Dann wunderbar hoch über Loch Ness durch Heidelandschaft, dann ein Downhill und auf zum nächsten Berg. Auf einmal kann ich nicht mehr schalten. Nein!!! Nicht schon wieder ein Problem, jetzt das Ende in greifbarer Nähe. Ich schiebe etwas, dann wird es flacher. Das Schalten scheint wieder zu gehen, nur der erste Gang lässt sich nicht mehr schalten. Abfahrt. Supermarkt-Stopp mit Latte-Pause, Hermann fährt gerade wieder ab. Danach gibt es lange nichts, außer man schafft es zeitlich bis Contin, dort gibt es einen Tankstellen-Shop, der bis 19 Uhr offen hat. Ob ich das schaffe? Keine Ahnung, deshalb besser vorgesorgt, was wieder mehr Gewicht bedeutet. Essen und Wasser.
Ich komme nicht weit. Der Reifen hinten ist wieder platt. Ein Entsetzensschrei meinerseits. Wieder die gleiche Prozedur wie am Tag zuvor. Luft einpumpen. Geht nicht! Ich versuche den inneren Gummiring etwas zu schmieren, jetzt geht garnichts mehr. Ein Lieferwagen hält. Der kann mir auch nicht helfen, aber nette Geste. Pumpe kaputt! Aus der Traum. Ich schreibe Hermann, dass ich nun endgültig raus bin und google, wie ich hier weg kommen könnte.
Hermann ist schon 11 Kilometer weiter und halb den nächsten Berg hoch und gut in der Zeit das Finish zu schaffen. Und was macht der Kerl? Er dreht um und bringt mir seine Pumpe.
Gemeinsam fahren wir weiter. Ein schwieriger Berg, eine schwierige Abfahrt, aber wir schaffen es bis zur Tankstelle, um uns ein letztes Mal zu versorgen, ab hier nämlich 260 Kilometer bis zum Ziel keine Einkaufmöglichkeit mehr.
Die Höhenmeter, die nun anstehen, sind nicht viele, das Gelände in der Nacht ist aber nicht leicht. Ich bin ohne gute Beleuchtung und als es dunkel wird, erkenne ich, wie schwierig es ist. Die bessere Bontrager-Lampe leuchtet grad mal 2 Stunden, die andere Lampe ist kaum brauchbar. Das bedeutet sehr langsames Vorankommen, während die Bontrager auflädt. Untragbar und dann noch die Müdigkeitsattacken in der Nacht. Ich fahre zwischen zwei Zaunstangen durch, erschrecke und ziehe den Kopf vor der Querstange ein, die gibt es allerdings gar nicht, Trugbild, es wäre wohl langsam Zeit zu schlafen. Dachten wir zunächst das Ende des ersten Abschnitts, Rosehall, gegen Mitternacht zu erreichen, wird es 2 Uhr, dann 4 Uhr, schlussendlich sind wir erst gegen 6 Uhr dort.
Tag 11
Ein kurzer Powernap, dann weiter. Die Motivation ist gesunken, Hermann hatte auf der Dotwatcher-Seite gelesen, dass die Beobachter uns schon abgeschrieben hätten, Hermann und Gabi würden es nicht schaffen bis 20 Uhr. Demotivierend.
Die restlichen 200 Kilometer sollten wir nun in knapp 14 Stunden schaffen. Asphalt nur recht wenig darunter. Ein 400 Höhenmeter-Berg mit giftigen Steigungen bringen wir hinter uns. Plötzlich vor uns ein langsamer Radfahrer. Nein, der schiebt ja. Beim Näherkommen erkennen wir Jamie. Freilauf kaputt. Er möchte die 200 Kilometer laufend hinter sich bringen. Ein Held! Er wird aber einige Kilometer später abbrechen. Schade. Das tut mir sehr leid für ihn.
Wir quälen uns weiter. In immer kürzeren Abständen kommt die Müdigkeit, nun auch tagsüber. Zweimal gönnen wir uns noch eine je viertelstündige Schlafpause. Mir geht das Wasser aus. Es gibt auch keine Bäche in der Gegend. Wider Erwartung kommen wir an einem kleinen Campingplatz vorbei. Dort bekommen wir Wasser und ein Eis.
Der nächste Anstieg ist eine ellenlange Rüttelpiste. Muss das sein? Ich bin wieder hundemüde. Auf einmal sehe ich vor mir eine Hütte, sieht aus wie eine bewirtschaftete Bergalm. Trugbild meines erschöpften Gehirns, hier gibt es nur Steine und Gras. Irgendwann ist auch diese Steigung und Abfahrt gemeistert. Die lange Asphaltstrecke zieht sich allerdings. Ich sehe immer wieder komische Dinge, jetzt eine Maschine, die das Farnkraut schneidet, kurz vor mir, ich zucke zusammen und erkenne es ist nur eine Spiegelung des Wassers neben mir.
Irgendwann liegen „nur“ noch 40 Kilometer vor uns und nur noch Asphalt. Nun wird es wieder dunkel und das Problem Beleuchtung ist dasselbe wie in der Nacht zuvor. Ich habe zudem Angst, dass ich von Autofahrern nicht gesehen werde. Schleppendes Vorankommen. Es ist nun 20 Uhr schon vorbei. Aus der Traum!
Die Ankunft in John O‘ Groats, trotz 2 Stunden Verspätung, trotzdem überwältigend. Eine Gruppe um Emily Harper, der Siegerin erwartet uns am nordöstlichsten Punkt Schottlands. Eine wunderbare Geste von der Gruppe, die sicher lieber schon im wärmenden Bett sein wollte. Da wir das Abendessen versäumt und über einen Tag uns nicht versorgen konnten, schenkte uns Emily ihren Reiseproviant, Keks, Orangen, Chips – eine tolle Geste!! Danke, Emily!! Dann konnten wir in unser ersehntes Bett sinken …
Am nächsten Tag Frühstück mit den Finshern, dann löste sich die Gemeinschaft langsam auf und jeder machte sich auf den Heimweg.
GBDuro war so das Härteste, das ich je in meinem Leben gefinisht habe …
Sehr viele Augenblicke waren Spaß-Stufe 3; aber nicht zuletzt deswegen bin ich mega stolz es bis John O’Groats geschafft zu haben, besonders, wenn man bedenkt, wie viele der Racer aufgeben mussten (über die Hälfte der Gestarteten)
Danke für alles und danke für die vielen netten Leute, die ich kennen lernen durfte, sei es Mitfahrer*innen als auch Dotwatcher und andere Leute an der Strecke!!!
Überraschung: Dotwatcher award – „lanterne rouge“
Was nun auf uns zukommen sollte, ist nicht mehr zu toppen: Horrortripp Heimreise.