Tour d’Ortles – Brevet mit 250km/ 5450 Hm
Letzter Juni-Tag: Ich und gefühlte hunderttausend Radfahrer und mindestens eine Million Motorräder sind in beiden Richtungen auf den Pässen rund um das Ortler-Massiv unterwegs. Chaos pur und nicht selten kritische Situationen …
Start in dunkler Nacht, 4 Uhr, in Meran, nachdem es eine Stunde vorher noch ein Erlebnis beim Aufpumpen des Hinterreifens meines Rades gibt: Nach einigen Minuten machte es pfffffffffpfffft, eine Pulverfontäne und Luft schoss aus einem Löchlein im Reifen. Zur Erklärung: ich fahre tubeless Reifen und hatte in den letzten Monaten einen Wahnsinns-Verschleiß an Reifen. Auch der Vorderreifen ging, obwohl neu, nicht unversehrt an diesen Start (siehe V.R.V.). Also sollte der heutige Tag auch in dieser Hinsicht spannend werden. Es stellte sich sowieso schon die Frage, ob ich die Runde schaffen würde. Recht fit fühle ich mich eigentlich nicht. Aber ich wollte vor der Alpi4000 nochmal sehen, wie der letzte Pass dieser 1400km langen Tourtur sein würde: das Stilfser Joch … Angemeldet war ich heute alleine und so sollte es auch den restlichen Tag bleiben – so konnte ich alleine vor mich hinleiden …
Los und ich an der Spitze führte die Gruppe aus Meran heraus. Sofort nachdem wir in den Radweg einfädeln ist die Gruppe weg. War auch nicht anders zu erwarten, denn bei diesem ersten Anstieg auf die Töll habe ich keine Lust meine gefühlt spärlichen Kräfte schon zu verpulvern. A propos „verpulvern“: Ich hatte den defekten Reifen kurz vor Abfahrt nochmal aufgepumpt und wie verrückt gedreht. Ein wenig Hoffnung war vielleicht auch dabei, dass irgendwann der Reifen, als der vernünftigere, mich an der Weiterfahrt hindern würde: Der erste Aufstieg auf das Stilfserjoch sind sage und schreibe 2400 Höhenmeter, auf den Gavia rauf nochmal 1200, Tonale nur knapp 700 und Richtung Gampen sollten nochmal über 1000 Höhenmeter zu Buche schlagen. Eigentlich keine Tour, sondern eher eine Tortour… (der kleine Bruder zur Alpo4000??? – das ganze müsste in drei Wochen etwa 5-mal aneinandergereiht werden).
Einsam auf dem Vinschgau-Radweg in die Morgendämmerung hineinkurbeln… traumhaft. Wenn nicht nur das gesamte Vinschgau zu dieser Zeit seine Obstwiesen-Bewässerungsanlagen eingeschaltet hätte. Immer wieder werde ich unfreiwillig geduscht. Schotter und Wasser und das Rad ist in kürzester Zeit verdreckt – und das an einem wolkenlosen Tag. Zwischenstop am Brunnen in Prad. Ich versuche mein Bike etwas sauber zu bekommen. Ein Radler fährt vorbei: „Donne …!“
Die an die 50 Kehren hinauf zum Stilfser Joch erlebte ich mit gemischten Gefühlen. In drei Wochen werde ich die steileren Passagen wohl zu Fuß zurücklegen … Heute habe ich hatte eine Geheimwaffe: HÖRBUCH. Die Zeit verfliegt mit der spannenden Geschichte und im Kopf kreisen nicht unablässig Hochrechnungen: Wie viele Kehren sind es noch? Wie viele Kilometer und Höhenmeter? Zwischendurch auch mal ein Schwätzchen. Ich treffe Stefano und ein paar andere ciclisti. Peinlich nur, dass ich die Namen immer wieder vergesse. Es ist aber auch zu ungerecht – Die Männer haben nicht so viele Frauennamen zu merken. Heute etwa ist das Mischungsverhältnis ähnlich wie immer: Wir sind mit einem Zehntel weit in der Minderheit.
Wider Erwarten bin ich schneller auf dem ersten Pass als bei der letzten Tour d’Ortles (ist schon drei Jahre her – die Leiden waren anscheinend schnell vergessen …). Schon spektakulär, wie sich die Straße in unzähligen Kehren nach oben windet. Recht frisch ist es hier oben. Nicht viel anzuziehen habe ich, also „schlotterte“ ich nach dem Stop bei der Kontrollstelle langsam talwärts nach Bormio, überholt von unzähligen Radfahrern . Irsinnig viele Motorräder und Autos von hinten und von vorne und jede Menge Radler, die auf der Gegenseite nach oben schinden. Nicht wenige kritische Situationen konnte ich vor mir beobachten. Lieber auf Nummer sicher und laaangsam.
In Bormio staut sich schon die Hitze. Den Kreisverkehr umrunde ich zweimal. Ich muss was aufheben. Auf der Straße liegt nämlich ein Paar Handschuhe. Ich brauche eine Weile, bis ich einen Stauraum dafür finde. Wer vermisst schwarze MTB-Handschuhe? Drauf gedruckt steht „Bergamo“. Bitte melden! Selber schuld, wer den Bericht nicht ganz liest. Die Hitze bei Stillstand noch unerträglicher. Die Sonne knallt nun auf dem endlosen Anstieg nach Santa Caterina. Und dann geht die Steigung erst richtig los. Immer wieder kurze Rampen und der Gavia-Pass will und will nicht näher kommen. Unterwegs ein Bänkchen im Schatten. Ein Motorrad-Pärchen ist beeindruckt: So viele Kilometer und Höhenmeter … Das machen die nicht mal auf dem Motorrad.
Auf der Passhöhe treffe ich Andy. Bei der Abfahrt keine Chance dran zu bleiben. Das schmale Sträßchen nach Ponte di Legno ziemlich kriminell bei dem Verkehr. Radfahrer und Motorräder ohne ende, dazwischen mal ein Auto und es gibt kaum ein Durchkommen.
Den Tonale-Pass hatte ich angenehm in Erinnerung. Die Steigung moderat und überschaubar lang. Aber es kommt immer anders, wie man/frau denkt: Kein Lüftchen regt sich bei Temperaturen um die 35°. Unterwegs finde ich schon wieder was: ein praktischer Inbus-Schlüssel. Kann man immer mal brauchen. Und es ist eine Ausrede wieder mal vom Rad zu steigen. Im Täschchen hat er noch gut Platz.
Oben werde ich sehr nett empfangen. Eine Dame, Loris und seine Kollegen. Auch auf Andy bin ich wieder aufgeschlossen und auf Stefano. Hier treffe ich auch einen -wie er mir später erzählt- siebzigjährigen Herrn (Franco??), der sich diese Tortour auch antut. Alle Achtung!
In Anbetracht auf die 40 km hinaus durch das Val di Sole habe ich vor mich an die kleine Gruppe anzuhängen, die gerade startet. Pffffffpfft! Die freiwillige Helferin hatte es schon vor mir gehört: Ein Platten? Es ist mein Hinterreifen. Bei der Hitze hat der sein „Notventil“ geöffnet um Druck abzulassen. Kennen wir ja schon: System Schnellkochtopf … Schrecksekunde meinerseits und Erklärung an die Helfer, dass das wahrscheinlich nicht so schlimm ist. Ich drehe schnell den Reifen und das Loch auf die Unterseite. Ich kontrolliere mit dem Daumen. Da ist anscheinend noch genügend Druck drin. Die Gruppe ist inzwischen aber weg. Ich rolle hinterher – verhalten. Man weiß ja nie … Nicht dass der Reifen einfach mal runter springt aus seinem Felgenbett. Immer wieder schweift mein Blick misstrauisch nach unten. Am Reifen tut sich nichts. Lieber nicht stehen bleiben und schauen, ob weitere Luft entweicht. Was man nicht weiß …
Wieder gefährliche Situationen. Motorradfahrer überholen in der dritten Reihe: Auto überholt Rad und die Motorradfahrer Radfahrer und Auto. Und die in der dritten Reihe kommen mir gefährlich nahe. Dass es da auf den Passstraßen nicht öfters kracht, wundert mich sehr.
In der brütenden Hitze – eine Tafel in einem Dörfchen zeigt 39°!!! – ist niemand unterwegs. Der Gegenwind fühlt sich wie ein heißer Föhn an. Aus den Augenwinkeln sehe ich in einem Bushäuschen Franco (?) von vorher. Auf einmal Sprühregen auf meine Unterschenkel. Eigentlich angenehm, aber … Ach ja, wieder mal der Vorderreifen, der Druck ablässt. Hatten wir auch schon ein paarmal heute. Nicht weiter schlimm. Mich wundert, dass überhaupt noch Luft drin ist. Die dünne Latexschicht auf dem Reifen wird irgendwann abfallen. Vom Rahmen und Beinen kann die Milch auch abgerubbelt werden. Weiter. Endlich die Abzweigung nach Fondo.
Nun sollten es nur noch 32km bis auf den Gampenpass sein. Nur? Nein heute scheinen mir 32 Kilometer noch sooo viel. In der Hitze zudem an die 1000 Höhenmeter. Das endlose Auf und Ab hatte ich nicht mehr in Erinnerung. Unterwegs lockt ein Brunnen. Herrliche Erfrischung. Franco schließt auf und Stefano. Die beiden sind schnell weiter. Ich bekomme irgendwie keinen Speed mehr drauf. Erst hinter Fondo, da ist mir die Strecke bekannt und ich lege einen Zahn zu.
Endlich ist der letzte Pass, der Gampen erreicht. Wieder Stefano und Andreas. Und Klaus. Mit ihnen mache ich mich auf den Abwärtsweg. Natürlich entschwinden die drei schnell meinen Blicken. Wie gehabt. In Lana warten Andy und Klaus auf mich. Nett von ihnen. Klaus hat ein schmerzverzerrtes Gesicht. Was ist los? Der immer wieder krampfende Oberschenkelmuskel hatte ihn schon zu einigen Geh-Einlagen gezwungen. Ich habe die rettende Idee. Meine gesalzene Nussmischung ist immer noch unberührt in meinem Oberrohtäschchen. Mit viel Wasser runtergespült wirkt das anscheinend sofort Wunder. Auch die kleinen Gegenanstiege nun ohne Krämpfe. Und bald sind wir im Ziel. Hermann ist auch schon da. Er war von Brixen über den Jaufen geradelt, um mich abzuholen. Schön. Brevetkarte abgeben. Und zur Dusche. Davon hatte ich nicht wenige Male geträumt heute in der Hitze … Die leckeren Nudeln helfen die Energiereserven wieder aufzufüllen und zwei Eis … Heute habe ich die wirklich verdient.
Fazit 1: Sehr schöne Veranstaltung, aber sehr hart: 250 Kilometer/ 5450 Höhenmeter. Einen herzlichen Dank an die Organisatoren und die vielen freiwilligen Helfer vom Athletic Club Merano.
Fazit 2: Die Panoramen sind traumhaft. Alleine unterwegs zu sein ist nicht so schön, als wenn man diese mit jemandem teilen kann und ebenso die Leiden. Denn die sind bei so einem Event auch vorprogrammiert. Zum Glück vergisst man schnell.
Fazit 3: Der Verkehr auf den Pässen. Mitunter kriminell. Ich bin dankbar, dass ich da heil durchgekommen bin.