Randonneé Carlo Galletti: Von Corsico (Mailand) nach Genua und zurück
404km/3000Hm
Ende April. Frühstück am Meer? Davor und danach etwas Radeln mit ein paar Radfreunden (etwa 120…)? … Klingt gut. Machen wir!
Start in Corsico bei Mailand. 19 Uhr. Nachtfahrt. Wettervorhersage: Zwischen dem Start und 2 Uhr Gewitter vorausgesagt. Also Regenzeug eingepackt. Beim Start 1 Regentropfen pro Minute – das wird auch alles gewesen sein. Zum Glück.
Auf der verkehrsreichen Ausfallstraße, wir sind noch keine 5 Minuten gefahren … Pffffppffft … Feiner cremefarbener Nieselregen geht auf meine Beine nieder… So ein Mist. War wohl keine gute Idee den Mantel nach der 300er Pfaffenwinkel-Rundfahrt (siehe Bericht) nicht zu wechseln. Zur Erinnerung: Tubeless-Reifen. Kleiner Schnitt, der durch die Milch gleich wieder gedichtet wurde. Die Dichtmilch war aber am Tag vor Corsico nach dem Aufpumpen eine lange Weile aus dem Reifen geblubbert (… und ich hatte beschlossen, den Reifen nicht mehr aufzupumpen, damit der Druck das Loch nicht ausdehnt). Gabi, du hast Nerven! Wie eine Fontäne sprüht die Milch weiter mit unschönem Zischen aus dem Mantel. Hermann hinter mir ruft, ich solle einen Platz suchen, wo ich anhalten kann. Na, wie denn? Die Straße ist rechts begrenzt von Leitplanken, auf Sicht keine Ausweichmöglichkeit. Ich rolle also weiter. Das Geräusch lässt nach. Ein Blick nach unten zeigt mir, dass der Reifen durchaus nicht platt ist. Also fahre ich weiter, möge kommen, was kommt. (Hatte H. den Reifen doch vor der Fahrt in einem unbeobachteten Moment ordentlich aufgepumpt …). Verhext? Vermutlich … Ist nicht die kommende Nacht die Walpurgisnacht? Vielleicht hat sich eine der Hexen im Termin geirrt und verhext, was ihr in die Quere kommt …
Die Strecke folgt anfangs wunderschön zig Kilometer einem Radweg mitten im Grünen und fern von jedem Verkehr einem historischen Kanal entlang, erbaut schon Anfang des 15. Jahrhundert und Wasserstraßenverbindung zwischen Mailand und dem Meer.
Die Überquerung des Flusses Ticino über den „ponte di barche di Bereguardo“ ist etwas Besonderes; Die Geschichte der Brücke geht 700 Jahre zurück. Die Konstruktion passt sich dem jeweiligen Wasserstand an, das heißt der Brückenuntergrund liegt auf zahlreichen kleinen Booten.
Wir fahren in einer kleinen Gruppe, die aber am Anfang der Nacht irgendwo in einer Bar auf einen Kaffee hängenbleibt. Wir alleine weiter. Die Nacht ist mondhell.
In der ersten ernstzunehmenden Steigung überholt Hermann ein Radler-Paar. Er auf Italienisch: „Ah, der Ehemann von Gabi Winck, dieses Mal vorne …“ Wer kennt mich denn da? Es sind Giovanna und ihr Mann.
Zügig unterwegs erreichen wir nur eine halbe Stunde nach Öffnung die erste Kontrollstelle und stärken uns mit Grana Padana, Focaccia, Schokolade und anderen Süßigkeiten. Der im Nachtschlaf befindliche mittelalterliche Dorfkern Carpeneto liegt hübsch auf einer Hügelkette. 999 n.Chr. wurde die Zerstörung durch die Sarazenen dokumentarisch erwähnt. In der Zeit Friedrich I., Barbarossa kam es in Besitz der Grafen von Monferrato. Aber genug Vergangenheit, vor uns liegt die lange Steigung von Acqui Therme durch Sassello und hinauf zum Ligurischen Alpenübergang beim Dörfchen Giovo Ligure. Auf den 15 Kilometern Abfahrt bin ich froh über meine Jacke. Müdigkeit macht sich breit, sobald ich nicht mehr in die Pedale steigen muss. Ich versuche mich mit einem Mini-Snickers abzulenken. Bei Varazze, östlich von Savona, erreichen wir Das Meer. Jetzt geht es „lungomare“ nach Genua. Sanftes Meeresrauschen, Strandabschnitte wechseln mit felsigen Abschnitten mit Tunnellösungen und in der Ferne locken die Lichter des zweitgrößten Hafens Italiens.
Etwas bewegt sich vor uns rhythmisch auf und ab. Nanu? Aus dem Dunkel der nacht schält sich eine menschliche Gestalt. Unsere Radlampe beleuchtet eine Startnummer … Hat sich diese ausgemergelte Gestalt wohl beim letzten Stadtmarathon verlaufen? Padua war vor einer Woche gewesen …? Halbmarathon in Genua ist auch schon über 10 Tage her …
Spaß beiseite, Richtung Osten treffen wir auf immer mehr Läufer. Erst später erfahre ich (GIDF: gebt die 4 Buchstaben mal in eure Browser Suchleiste ein … hat mir mein Sohn mal geraten, als ich ihn mit Fragen gelöchert habe), also ich erfahre, dass die nächtlich dahindümpelnden Gestalten runner des 285km langen Ultralaufs Milano-Sanremo waren. Die Spinner. Die werden sich wohl dasselbe von uns gedacht haben … „grins“.
Mit dem Frühstück wird es wohl nichts sein … Es ist erst 5 Uhr morgens und Genua schläft tief. Alle Genovesen? Neben der Straße Licht und eine Menge Räder. Da wird doch nicht etwa … Jaaaaaa! Eine Bar hat gerade ihre Pforte geöffnet und es duftet herrlich nach Kaffee und Brioches. Die Lebensgeister erwachen. Die grüne Welle treibt uns von Ampel zu Ampel durch Genua und wenn mal nicht grün ist … wie machen das die Italiener? Sogar Hermann, der sich sonst immer an die roten Stopsignale hält, nimmt es hier nicht so genau. Irgendwann heißt es Abschied nehmen von der Küste. Und der nun folgende etwas öde Abschnitt entlang des Flusses Pocevera lässt den Nach-Kaffee-Elan wieder schwinden. Obwohl es gerade hell wird, gähne ich an einer Tour. Mein Körper weiß wohl schon vor meinem Hirn, was auf ihn zukommt in naher Zukunft und gibt mir zu verstehen, er brauche eine Pause. Willkommen ein einladendes Bänkchen in Campomorone. Zwischenstopp. Als Unterlage dient die bisher unbenutzte Regenhose. Die Augen wollen langsam zufallen. Aber was ist das? Ein Taubenpärchen turtelt im Baum über mir, die Kirchturmuhr schlägt. Die Gedanken werden wieder wirr. Kommt endlich der ersehnte Schlaf? Ein paar Vorbeiradelnde tauschen sich laut aus … Mist, warum können die nicht leiser quatschen? Typisch …! Die Metallbank ist auch nicht bequemer geworden und so mühe mich wieder in die Senkrechte und stakse mit steifen Gliedern zu Hermann, der sich auf einer Holzbank bequem gemacht hat und angesichts der Kürze die Beine über die Lehne baumelnd. Bequem glaub ich ist was anderes. Die Augen auf Halbmast scheint er auch nicht zu schlafen, schaut mich aber irgendwie verständnislos mit gläsrigem Blick an. Wie? Weiter? Wir haben uns doch grad erst hingelegt! Ich versuche ihm zu erklären, dass ich weiter will und befinden uns sofort in der Steigung Richtung Passo delle Bocchette. Und was für eine Steigung. Teilweise bis zu 15% kommt hier nach etwa 250 Kilometern auf unsere Beine ganz schön was zu. Geht aber recht schnell, da ich einen Leidensgenossen zum Ratschen finde. Wir tauschen Erfahrungen aus über Langstrecken wie Paris-Brest-Paris und so. Auf der Passhöhe ein paar Fotos und alles anziehen, auch die warmen Handschuhe, denn die Abfahrt durch das Val Lemme verspricht ganz schön kalt zu werden. Nächste Kontrolle in der Ortschaft Gavi, über der das Forte di Gavi, eine gewaltige antike Festung, thront. Zum Glück gibt es wieder gut zu essen, denn vor Hunger fühle ich mich schon ganz schlapp. Nach einigen ebenen bis leicht hügeligen Abschnitten geht es auf einen kleinen Pass, der vom Val Borbera in die Täler von Tortona führt. Nach der langen Abfahrt von Garbagna, ein paar Kilometer von Tortona entfernt, haben die Organisatoren einen etwa 4 Kilometer langen Anstieg eingebaut, der der mit bissigen Steigungen ins Val Curone führt. Ab hier nun nur noch etwa 80 Kilometer Ebene, aber die zieht sich wie ein Kaugummi in der Sommerhitze. Es geht gefühlt kreuz und quer durch die Po-Ebene. Irgendwann wollen meine Beine nicht mehr. Ein Bänkchen im Dörfchen Bastida muss herhalten. Ein älterer Herr schlendert herbei und möchte wissen, woher wir kommen. Hermann erstaunt ihn mit seiner Schilderung und pflanzt sich auf eine Grünfläche, als der Herr endlich von dannen zieht. Mit Heißhunger beiße ich in mein Vollkorn-Brötchen. „Where do you come from?“, eine Frau mit einer Flasche Mineralwasser in der Hand baut sich vor mir auf. Ich bitte sie Italienisch zu sprechen, da ich nicht gut Englisch kann. Ihr Mann habe ihr von uns erzählt. Aha, der Herr von eben … Vom Po-Deich-Radweg kämen öfters Touristen aus aller Welt auf Abstecher in ihr Dorf und sie spreche gerne mit ihnen. Genau will sie nochmal wissen, woher wir kommen und in wie viel Tagen. Ungläubigkeit in den Augen. Wenn wir Hunger hätten, sie schicke uns in die Pizzeria und wir sollten dort sagen, dass Susi uns geschickt habe. Susi hört nicht auf zu reden. Auch als ich vorsichtig andeute, dass mein Mann auf dem Rasen vor dem Weiterfahren etwas Schlaf brauche, lässt sie das „kalt“, das Mineralwasser in ihren Armen hingegen wird bei der Hitze warm. Irgendwann lässt sie locker und schlendert nach Hause zurück nicht ohne weiteren Radfahrern unseres Brevets zuzujubeln. Ich hatte mich höflich für die Flasche bedankt, schraubte sie nun auf und nahm einen großen Schluck. „Hust!“ – süßes Mineralwasser? … Was ist denn das? Ich beäuge das Etikett: Gassosa! Eine Art zuckersüße Limonade, lauwarm, nicht gerade geeignet Durst zu löschen. Hermann nimmt sie dankend entgegen. Erholsam war der Aufenthalt nicht. Ich war nicht mal dazu gekommen mein Brot zu essen. Weiter! Von hinten kommt wieder ein Grüppchen Radler. Giovanna und ihr Mann sind dabei. Ich hänge mich im Windschatten dran. Irgendwann fällt mir auf, dass Hermann fehlt. Ich lasse abreißen und warte auf ihn und als er aufschließt meine ich, wie schade es sei, dass die Gruppe weg sei. Er fängt an zu schimpfen, es gehe im Moment halt mal nicht schneller und es stresse hinter einem Radfahrer nicht zu sehen, wohin man fahre. Er sein schon ein paarmal in die in unregelmäßigen Abständen auftretenden Löcher gekracht. Wenn die mit Wasser gefüllt wären, wären die super geeignet ein Kleinkind darin zu baden. Beleidigt ziehe ich nach vorne weg. Soll er doch alleine weiter fahren. Nach ein paar Kilometern bremst mich das schlechte Gewissen. Ich kann ihn doch nicht einfach hängen lassen. Ich verlangsame und entschließe zu fragen, ob er noch zu essen und Wasser brauche. Wieder eine mürrische Antwort. Dann halt nicht. Ich habe es auf jeden Fall versucht. Wieder Beschleunigung. Ein paar Meter und „pppppffffffppffffft“ – ein feiner Nieselregen geht auf mich nieder. Eigentlich angenehm bei der Hitze. Aber, meine Gedanken drehen sich im Kreis … Nicht schon wieder der Reifen. Nein, nicht jetzt noch einige Kilometer vor dem Ziel!!! Und was ich jetzt erst recht nicht will, meinen Göttergatten um Werkzeug oder Hilfe zu fragen. Also weiter. Wieder hört es auf zu sprühen und wieder war der Druck nicht viel abgefallen. Vermutung, dass der durch die Hitze gesteigerte Reifendruck das Loch etwas geweitet hat. Aber ich bleibe verschont. Zuhause werde ich den Reifen schleunigst wechseln …
Ein Ortsschild: Torrino – Hilfe, hatte ich mich verfahren? Mein vom mangelnden Nachtschlaf und der Hitze ausgebranntes Hirn realisierte zunächst nicht, dass Torino (Turin) mit einem „r“ an die 150 Kilometer entfernt sein müsse …
Leicht sind nun die letzten Kilometer im Wissen gleich da zu sein. Weit und breit kein anderer Radler. Die Radlergruppe um Giovanna hatte ich aus den Augenwinkeln vor einer Bar stehen sehen. Mein Gewissen plagt mich nur ein klein wenig. Ich bin aber nur ein paar Minuten im Ziel, da trudelt auch Hermann ein, der die Krise bald überwunden hatte.
Wir nehmen unsere Brevetkarte entgegen, dann ging es unter die wunderbar erfrischende Dusche. Nach der Stärkung mit einem sehr leckeren Nudelgericht folgt der härteste Teil des Tages: Die Autofahrt nach Hause …
Mit Bedenken war ich hierher gekommen. 400 Kilometer mit Start am Abend und schlafloser Nacht finde ich von allen Längen am schwierigsten. Aber es war abgesehen von einigen wenigen Krisenmomenten einfach nur schön. Schöne Gegend, die Streckenführung auch relativ verkehrsarm gewählt und wieder nette Leute getroffen … Danke Team Ciclisti Corsichesi!!!
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